Wir glauben ganz gerne, dass Macht denjenigen vorbehalten ist, die an der Spitze stehen. Dass nur die großen Entscheidungsträger die Welt regieren. Dieses Bild wird uns tagtäglich in den Nachrichten vermittelt. Dabei stehen vor allem hochrangige politische Machthaber im Mittelpunkt. Im Sinne dieser konventionellen Betrachtungsweise von Macht hat Abraham Lincoln die Sklaverei abgeschafft, hohe Richter haben die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert und Angela Merkel hat der Atomkraft den Saft abgedreht.

Diese Darstellungen verdrehen die Tatsache, dass die größten sozialen Veränderungen, die sich in den vergangenen Jahrhunderten vollzogen haben, durch soziale Bewegungen entstanden sind. Der Einsatz der Suffragetten in Großbritannien, die Anti-Atom-Bewegung in Deutschland, die Bürgerrechtsbewegung und die LGBTQ-Bewegung haben den Entscheidungsträger*innen letztlich keine andere Wahl gelassen, als zu handeln.

Photo: Marlin Olynyk | Survival Media Agency

Foto: Marlin Olynyk | Survival Media Agency

 

Die Stützpfeiler zum Einsturz bringen

Gemäß dieser sozialen Vorstellung von Macht ruht der Einfluss der Eliten auf zahlreichen Stützpfeilern. Fallen diese Pfeiler weg, verlieren Entscheidungsträger*innen und Mächtige ihre Position. (Hier ein faszinierendes Beispiel für die Anwendung der „Pfeiler-Analyse“ im Zuge des Sturzes von Slobodan Milošević in Serbien).

Ein Diktator ist das ultimative Beispiel eines monolithischen Machthabers. Dennoch ist er auf die Unterstützung von Militär und Sicherheitskräften angewiesen. Trotz allem braucht er die Kooperation der Menschen im täglichen Leben, um die Wirtschaft irgendwie am Laufen zu halten. Er ist abhängig von wichtigen Institutionen wie den Medien, dem Bildungswesen oder religiösen Einrichtungen, die im Sinne einer Systemhörigkeit Einfluss auf die Meinung des Volkes nehmen.

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Nach der traditionellen Auffassung des Machtbegriffs müssen Aktivist*innen an Mächtige appellieren, um Strategiewechsel oder die Verabschiedung von Gesetzen oder Zugeständnisse egal welcher Art zu erwirken, die zu einem bestimmten Zeitpunkt politisch möglich erscheinen.

Doch dieser Weg allein wird nicht zu der grundlegenden Veränderung unseres Wirtschaftssystems führen, die wir brauchen, um unumkehrbare Klimakatastrophen abzuwenden. Solange politische Prozesse von der Kohle-, Öl- und Gaslobby mitbestimmt werden, werden die Regierungen deren klimaschädlichen Geschäften keinen Riegel vorschieben.

Photo: Abram Powell

Foto: Abram Powell

Deswegen will die Fossil Free Kampagne die institutionellen Pfeiler und damit die Stützen der Kohle-, Öl- und Gasindustrie zum Einsturz bringen. Denn diese Industrie treibt die Klimakrise voran. Wenn uns dies gelingt, werden wir den mächtigsten Akteur zu Fall bringen, der die Klimapolitik derzeit blockiert.

 

Sturz der mächtigsten Industrie in der Geschichte

Die Unternehmen der Kohle-, Öl- und Gasindustrie haben sich zu den mächtigsten Konzernen in der Geschichte entwickelt. Jedoch hängt ihre Macht davon ab, dass sie als legitime Akteure innerhalb der Gesellschaft anerkannt werden.

Es gibt einen Grund für ihre Investitionen in Werbung und Sponsorenverträge im Millionen-, ja im Milliardenbereich, zur Aufrechterhaltung ihres respektablen Marken-Images.

  • Sie müssen in der Lage sein, qualifizierte Arbeitskräfte einzustellen und zu behalten.
  • Sie verlassen sich auf die Kooperation ihrer Arbeiter*innen und manchmal auch der Polizei oder sogar des Militärs, um ihre Geschäfte am Laufen zu halten.
  • Sie brauchen Zugang zu akademischer Forschung, zu Spezialkenntnissen und Expertise und sie müssen diese Dinge beeinflussen können.
  • Sie brauchen Genehmigungen von verschiedenen Ebenen der Regierung und der Gerichte.
  • Sie brauchen Investoren und müssen an Kredite kommen.
  • Sie brauchen Versicherungsunternehmen zur Absicherung ihrer Projekte.
  • Sie sind auf Zulieferer und Geschäftspartner angewiesen.

Sie brauchen eine ausreichende öffentliche Akzeptanz, um einen für sie vorteilhaften gesetzlichen und politischen Rahmen aufrechtzuerhalten, der ihnen die unbegrenzte und kostenlose Verschmutzung unserer Atmosphäre ermöglicht. So gefährden sie unsere Gesundheit, zerstören unsere Umwelt und treten Menschenrechte mit Füßen.

Würden die Regierungen die Milliarden von US-Dollar an Fördermitteln streichen, von denen die Industrie profitiert, hätten die Unternehmen jetzt kaum noch eine Überlebenschance.

Photo: Babawale Obayanju

Foto: Babawale Obayanju

Je mehr Menschen das kriminelle Geschäftsmodell der Kohle-, Öl- und Gasindustrie durchschauen, d. h. es als ein Modell erkennen, das auf Kosten von Klima und Umwelt Profite erzielt, desto schwieriger wird es für die Industrie, weiterhin auf die benötigte Unterstützung zurückzugreifen.

Die Kohle-, Öl- und Gasindustrie weiß das. Erst kürzlich ließ der CEO von Shell, Ben van Beurden,verlautbaren, dass die schwindende öffentliche Akzeptanz das größte Problem sei, mit dem sein Unternehmen zu kämpfen habe. Auch der Vorstandsvorsitzende der Total-Unternehmensgruppe, Patrick Pouyanné, beklagte vor Kurzem, dass Öl- und Gasunternehmen „als die Bösen beschuldigt werden“ und dass Investitionen in erneuerbare Energien ein Mittel seien, um „das Geschäft mit Öl und Gas akzeptabel zu machen“. (Rasch merkte er jedoch an, dass diese nur einen Bruchteil der Investitionen ausmachten und betonte, dass Total ein Öl- und Gasunternehmen sei.)

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Unser Weg zur Transformation — die Öffentlichkeit überzeugen

Statt zu versuchen, den Einfluss von Institutionen für wachsende Erfolge zu nutzen, zielt eine transformative Vorgehensweise darauf ab, die breite Öffentlichkeit zu einem Thema zu bewegen. Denn sie kann größere Veränderungen bewirken als das, was zu einem bestimmten Zeitpunkt gerade politisch umsetzbar erscheint.

Wenn sich die öffentliche Debatte verlagert, interessieren sich mehr Menschen für die Sache und setzen sich dafür ein. Eine starke Bewegung von Bürger*innen baut genug anhaltenden Druck für den Wandel auf. Die Entscheidungsträger*innen werden schließlich mitziehen müssen.

Der Erfolg dieses Wegs zum Wandel baut auf Geschichten, Siege und Forderungen, die die moralische Notwendigkeit zur Bekämpfung von Ungerechtigkeit ins Rampenlicht rücken. Unmittelbare strategische Konsequenzen oder die tatsächliche Durchsetzbarkeit können dabei weniger bedeutend sein als der Symbolwert der Ergebnisse. Aus diesem Verständnis heraus geht es bei den Verpflichtungen zum Divestment weniger um die Verschiebung von Geldern als vielmehr um den symbolischen Wert, den die Institutionen dadurch zum Ausdruck bringen, dass sie sich von der Industrie distanzieren.

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Instrumentelle Verdienste sind wichtig, um Dynamik aufzubauen und voranzutreiben (zu diesem Thema kannst du hier nachlesen, wie viel wir bereits erreicht haben). Aber der Erfolg der Fossil Free Kampagne hängt davon ab, wie erfolgreich wir die öffentliche Meinung verändern und als Bewegung stärker werden können.

Ob sich eine Institution nun für Divestment entscheidet oder nicht — wir erreichen unsere Ziele dann, wenn Kampagnen mit Erfolg einen öffentlichen Kampf starten, der die öffentliche Meinung für sich gewinnt und die Akzeptanz für die fossile Industrie schwächt.

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Wenn Studierende am UCL in London Aktionen auf dem Campus starten, die den Konflikt zwischen Forschung und Investitionen der Universität aufzeigen und die die enge Verbindung von Mitgliedern des Hochschulrats zu Unternehmen der Kohle-, Öl- und Gasindustrie offenlegen; wenn der Druck von Wissenschaftler*innen, Klimaaktivist*innen und Museumsangestellten den Ölmogul David Koch zum Rücktritt aus dem Vorstand des American Museum of Natural History in New York zwingen; wenn die Stadt Kapstadt unter Druck gerät, ihre Investitionen aus den Unternehmen abzuziehen, die die Wasserkrise der Stadt verursacht haben; wenn Nobelpreisträger*innen dringend an die angesehene Nobelstiftung appellieren, ihre finanziellen Verbindungen zur fossilen Industrie zu kappen, dann ist das genau der Effekt, den wir mit der Fossil Free Kampagne erzeugen wollen.

 

Lehren aus der Geschichte

Ein Wandel vollzieht sich selten linear. Während der Status quo über lange Zeit stabil erscheinen kann, können die Stützen, die ihn halten, längst anfangen wegzubrechen. Wenn eine Kampagne einen Wendepunkt erreicht, kann das System scheinbar plötzlich zusammenbrechen.

Viele soziale Bewegungen, die wir als höchst erfolgreich in Erinnerung haben, konnten die längste Zeit keine instrumentellen Verdienste verzeichnen, wie etwa große Veränderungen in Politik oder Gesetzgebung. In der Tat ist es nicht unüblich, dass soziale Bewegungen in eine Phase eintreten, in der ein Gefühl des Scheiterns aufkommt, bevor sich letztendlich der Erfolg einstellt, wie Bill Moyers Analyse von Bewegungen aufzeigt.

Photo credit: Alexandra Kutler

Foto: Alexandra Kutler

Manchmal erleiden Bewegungen schwere Rückschläge, wenn beispielsweise ein Polarisierungsgrad erreicht wird, an dem sich die öffentliche Meinung tatsächlich verändert und das Gegenlager hart dagegen ankämpft. So hatte die Regierung unter Bundeskanzlerin Angela Merkel nur wenige Monate vor dem Atomunfall in Fukushima unter dem Druck der Lobbyisten eine bereits getroffene Entscheidung zum schrittweisen Atomausstieg zurückgezogen. Das GAU in Fukushima führte zu so heftigem Druck seitens der Anti-Atom-Bewegung, die starken Rückhalt aus der breiten Öffentlichkeit bekam, dass Merkel keine andere Wahl blieb, als sich in einer 180-Grad-Wende gegen die Atomindustrie zu stellen.

Die Fossil Free Kampagne ist nur ein Teil der globalen Bewegung für Klimagerechtigkeit. Wir kämpfen gegen mächtige Akteure, die ihre Einflussnahme nicht kampflos aufgeben werden. Wir haben Rückschläge erlitten und sollten uns auf weitere einstellen. Doch vergesst nicht: Solange wir die Akzeptanz gegenüber der Gas-, Öl- und Kohleindustrie schwächen und den Druck weiter erhöhen, sind wir auf dem richtigen Weg und werden immer stärker. So werden wir gewinnen.

Photo: Sanot Adhikari

Foto: Sanot Adhikari

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